Am 3. Oktober 2020 feiern wir die deutsche Wiedervereinigung zum dreißigsten Mal. Die Gefühle dieser Tage und die Bilder, die die Grenzöffnung ab 1989 begleitet haben, sind unvergessen. Bei allen Erfolgen, die die deutsche Einheit mit sich gebracht hat, ist der Prozess des Zusammenwachsens der damals noch so unterschiedlichen deutschen Länder nicht abgeschlossen.
Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt im vereinten Deutschland analysiert hat, hat sich nicht bei allen die Perspektive auf den Oktober 1990 einer gemeinsamen Deutung genähert. Ob etwa jemand von der Wende oder der Wiedervereinigung spricht, ist nach wie vor von west- oder ostdeutscher Herkunft und Biografie geprägt. So haben viele ostdeutsche Mitbürger*innen das historische Ereignis als Bruch des eigenen Lebenswegs erfahren und empfinden fehlende Anerkennung ihrer Lebensleistungen. Ein Gefälle beim Vergleich des Selbstvertrauens zwischen den Menschen in Ost und West, die Folgen der Einigung für die ostdeutschen Betriebe und Beschäftigung, ein geringeres geringes Renten- und Lohnniveau – all dies hat vielfach die Wahrnehmung der Einheit bei denen geprägt, die sich diesen Umbrüchen ausgesetzt sahen.
Insofern ist es noch immer unsere Aufgabe, Willy Brandts Maxime zu folgen, und das Zusammenwachsen der ehemaligen beiden Deutschlands zu vollenden. Dafür braucht es in der Betrachtung häufiger die ostdeutsche Perspektive. Bestehende Ungleichheiten und Differenzen in materiellen Belangen sind ungerecht und gehören 30 Jahre nach dem Ende der Teilung beseitigt. Politik hat die Aufgabe, das Lohnniveau anzugleichen, Lebensleistungen anzuerkennen. Ebenso haben wir uns den antidemokratischen Tendenzen, die aus Gründen erlittener Ungerechtigkeit oder empfundener Zurücksetzung Zulauf haben, gezielt entgegen zu stellen.
Wichtig ist, Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede hervorzuheben, die uns allesamt in Deutschland verbinden. Wichtigster Faktor ist neben der gemeinsamen Geschichte gesellschaftliche Solidarität. Es ist ein wichtiges Zeichen, wenn die Menschen dem Staat als Sozialstaat vertrauen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Solidargemeinschaft verstehen.
Auch für die deutsche Einheit ist das Coronavirus ein Prüfstein. Nur mit gegenseitiger Rücksichtnahme und dem Verständnis, dass wir diese Aufgabe nur gemeinsam mit Solidarität und Rücksicht meistern können, werden wir die weitere Ausbreitung eindämmen. In Zeiten, in denen Verschwörungsanhänger und Neonazis unseren demokratischen Zusammenhalt gefährden und versuchen, die Meinungshoheit in unserem Land zu gewinnen, ist es unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe, solchen Tendenzen entschieden entgegen zu treten. Uns alle eint unsere Verfassung, unsere Demokratie und unsere Freiheit.