Freiraum mitten in der Stadt: Hannovers Kleingärten – Lebensraum seit mehr als 120 Jahren

Der große Traum vom kleinen Garten in Hannover!

Hannover ist die grünste Stadt in Deutschland. Das – als Sozialdemokrat muss ich das sagen – bezieht sich ausdrücklich nur auf das Verhältnis zwischen bebauten Flächen und Natur- bzw. naturnahen Flächen im Stadtgebiet.

Grünste Stadt: Das ist nicht nur das subjektive Gefühle der meisten, die in dieser Stadt leben. Immer wieder sagen Hannovers Bürgerinnen und Bürger, dass sie an ihrer Lebenswelt vor allem ihr Stadtgrün und dessen Naherholungswert schätzen. Das meint nicht nur die historischen Parkanlagen der Welfen, den Hinüberschen Garten in Marienwerder, den von Alten- oder den Maschpark, die Ricklinger Masch, die als zusammenhängender Stadtwald in Europa einzigartige Eilenriede oder die als Gärten angelegten Friedhöfe der Stadt.

Seit mehr als 120 Jahren sind Kleingärten ein bedeutender und prägender Teil des Freiflächensystems in der heutigen Landeshauptstadt. 20.000 Kleingärten, 1.000 Hektar und damit rund 5 Prozent der Fläche. Das ist ein Spitzenwert unter den deutschen Großstädten. Spätestens seit der Schwelle vom 19. ins 20. Jahrhundert sind sie fest in die Stadtentwicklung und das Handeln der Gartenbau-Behörden einbezogen.

Die Entwicklung der Kleingärten geht auf Industrialisierung und Urbanisierung in der Zeit nach dem Reicheinigungsboom 1871 zurück. Die ursprüngliche Idee der Naturbildung und Ertüchtigung Jugendlicher, die der Leipziger Orthopäde Dr. Schreber mit angelegten Beeten im Stadtraum zu erreichen suchte, war zu dieser Zeit bereits vergessen. Wohl auch deswegen, weil sich Schreber als Arzt ansonsten der Konstruktion bizarrer Vorrichtungen zur Korrektur von Körper-Haltung oder Kieferstellungen hervortat und als Verfechter einer, aus heutiger Sicht, schwarzen Pädagogik auftrat.

Stattdessen hatten Arbeiterschaft und der wachsende Mittelstand die Kleingärten für sich entdeckt. Einerseits um der Enge der Mietskaseren zu entfliehen, andererseits um im Wege der Selbstversorgung mit Gemüse, Kartoffeln und Obst die eigene Armut zu lindern und Abwechslung von monotoner Tätigkeit in Fabrik oder Kontor zu finden. Zeugnisse und Berichte aus dieser Zeit belegen, dass die Gärten angesichts damals hoher Pachten ein durchaus kostspieliges Unterfangen sein konnten. Der Wunsch nach der Laube und einem Platz im Grünen war jedenfalls in der Welt.

Hannovers einflussreicher Gartengestalter Julius Trip bezog in seiner Rolle als Gartenbaudirektor ab 1897 die Kleingärten in seine Betrachtungen und Vorhaben zur Stadtentwicklung ein. Anderen erschien die Laube samt Garten als Ort der „moralischen Veredlung“ der Arbeiterschaft, so der Stadt-Obergärtner Braband in seinen Aufzeichnungen. Neben Erholung und Beschäftigung in freier Luft, hielten sie die Kleingärten vom Wirtshausbesuch ab, erhöhten Sparsinn und Eigentumsgefühl, stärkten das Familienleben und sein von kultureller Bedeutung, da sie sie Interesse an den Vorgängen in der Natur erweckten. Gleichwohl beklagte sich der Obergärtner über unzureichende Übung und geringes Verständnis des Arbeiters beim Bestellen seiner Scholle, die doch helfen sollte, den Arbeiter sesshaft zu machen.

Dem Arbeiter wird die allzu bürgerliche Betrachtungsweise seines Tuns durch preußische Beamte relativ gleichgültig gewesen sein. Die Zahl der Kleingärten steigt ungeachtet dessen ab 1910 deutlich an, von etwa 1.700 auf rund 6.000 im Jahr 1918, mehr und mehr Kolonien entstehen an verschiedenen Orten der Stadt. Allerdings gibt es aus dieser Zeit auch die ersten Zeugnisse, dass die Nutzungskonkurrenz zwischen Städte- und Gartenbauern zulasten der Kleingärten ausgehen konnte.

In der Zeit der Weimarer Republik erlebt das Kleingartenwesen einen enormen Aufschwung. Seit 1919 existierte In Hannover ein Kleingartenamt, dass der Gartenverwaltung zugeordnet war und dessen Aufgabe unter anderem in der Beschaffung und Vorbereitung geeigneter Flächen bestand. Der Erfolg bemisst sich an der nahezu Verdopplung der Zahl der Kleingärten bis 1927 auf mehr als 11.000 und schließlich 20.000 Gärten im Stadtgebiet 1932. Ein Antrieb des Amtes bezog sich auf die soziale Funktion der Gärten: Die Versorgung mit privat nutzbarem Gartenland zielte vor allem auf die Arbeiter. So waren 1927 61,2 Prozent der hannoverschen Kleingärtner Arbeiter, 5,6 Prozent Bürokaufleute und Angestellte sowie 17,1 Prozent Beamte. Die Ermittlung der entsprechenden Daten war eine der ersten Aufgaben des Kleingartenamtes und erfolgte in enger Zusammenarbeit mit den Organisationen der Kleingärtner. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Massenarbeitslosigkeit wandelte sich das zwischenzeitliche Interesse des Laubengartens als Erholungsort wieder stärker dem Aspekt der Linderung der Not durch selbstbestelltes Land. Auf Anregung des Arbeitsamtes schufen die hannoverschen Kleingartenverbände 1932 Gärten für rund 1.600 Bewerber, um neben der besseren Versorgung auch die soziale Isolation Arbeitsloser zu mildern.

Die Nationalsozialisten bezogen die Kleingartenvereine in ihre Strategie der Gleichschaltung ein. Einerseits aus ideologischen Gründen: Die Kleingärtner sollten als Nahrungsmittelerzeuger Teil des sogenannten Reichsnährstands werden und sich am Gemeinwohl beteiligen. Andererseits, weil die Nazis den vielen Arbeiterinnen und Arbeitern in den Kolonien politisch misstrauten. 18 Vereine wurden von der Gestapo gewaltsam aufgelöst, Gremien mit Nationalsozialisten besetzt. Dennoch stieg die Zahl der Kleingärten in dieser Zeit auf ihren Höchststand von über 26.000 Gärten. Im Verlauf des Krieges werden sämtliche Flächen für den Gemüseanbau genutzt, selbst die Flächen der Herrenhäuser Gärten müssen für den Gemüseanbau herhalten.

Seit 1947 kümmerten sich wieder offizielle Stellen um das Kleingartenwesen, dennoch sank die Zahl der Gärten trotz ihrer Bedeutung als Nahrungsquelle und als provisorischer Wohnraum in der in weiten Teilen zerstörten Stadt. Ab 1956 blieb die Zahl nahezu konstant bei 21.000 Gärten. In den 60er und 70er Jahren bedrängten Bau- und Verkehrsplanungen die Flächen, in den 70er und 80er Jahren folgten zahlreiche Sanierungen, die Öffnung der Anlagen und die Einbindung in umfassende Freiraumflächenkonzepte.

Das Kleingartenwesen hat sich im Zuge der Zeit immens gewandelt. Sicherlich spielt heute der Freizeit- und Erholungswert der einzelnen Gärten im Vergleich zu früheren Zeiten eine größere Rolle. Das macht die Kolonien zu sozialen Orten, zu Orten der Begegnung, Nachbarschaft und Integration. Die Gärten sind längst ein Ort internationaler Begegnung am eigenen Gartenzaun. Das macht die Kleingärten zu wertvollen gesellschaftlichen Orten, die obendrein unseren Stadtraum als Garten- und Naturraum prägen. Das verdient unsere Unterstützung. Die Bedeutung für Gartenkultur und Stadtraum spiegelt sich auch in der Entscheidung der Stadt wider, die bestehende Struktur bis 2025 – mit Ausnahme der Flächen für den MHH Neubau – nicht zu verändern. Das Kleingartenwesen in Hannover ist Ausdruck lebendiger und zeitgemäßer Bürgergesellschaft.

Fast 90 Prozent der Gärten und ihrer Besitzer profitieren von langfristigen Bestandssicherungen. Zudem regelt auch der Rat die Belange der Kleingärten als wichtigem Bestandteil der städtischen Kultur mit Augenmaß. So geschehen im gemeinschaftlich mit dem Bezirksverband der Kleingartenvereine entwickelten Gartenkonzept bis 2025. Der Rat der Landeshauptstadt beschloss im Jahr 2016 das von der Stadtverwaltung in enger Kooperation mit dem Bezirksverband Hannover der Kleingärtner e.V. erarbeitete Kleingartenkonzept 2016-2025. Als verbindlicher Handlungsrahmen ebnet es den Weg für eine in die Zukunft gerichtete Kleingartenentwicklung in Hannover.

Hannover ist eine Stadt der Laubenpieper. Früher bauten sie Obst und Gemüse an, heute verwirklichen die Hannoveraner dort ihren Traum vom Idyll im Grünen. Die Bedeutung von Kleingärten hat sich geändert. Für eine soziale Stadt und eine Stadt der guten Nachbarschaft sind die Kleingärten nach wie vor unverzichtbar. Wohnungsbau darf daher nicht auf Kosten von Kleingärten erfolgen. Das gilt gerade in Zeiten des Klimawandels. Beliebt sind Kleingärten wie eh und je, gerade in Corona-Zeiten.